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La Tène – Wie eine kleine Schweizer Gemeinde zum Namensgeber einer ganzen Epoche wurde

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Nachdem in der kleinen Schweizer Gemeinde La Tène im 19. Jahrhundert eisenzeitliche Objekte gefunden wurden, avancierte der Ort zum Namensgeber für eine ganze archäologische Epoche: Die vorrömische Eisenzeit. Anlässlich einer großen Eisenzeit-Ausstellung in der Eremitage St.Petersburg erklärt der Archäologe Christof Hannemann, wie es dazu kam.

Text: Christof Hannemann

Die Wellen des Neuenburger Sees schwappten gemütlich vor sich hin an diesem nebligen Novembermorgen des Jahres 1857 im Schweizer Kanton Neuenburg. Der örtliche Fischer Hansli Kopp war mit seinem Boot am Nordostufer des Sees nahe der Ortschaft Marin-Epagnier im Auftrag von Oberst Friedrich Schwab unterwegs, als er im ca. 70 cm tiefen Wasser auf dem Grund des Sees etwas hervorblitzen sah. Gemäß seinem Auftrag, prähistorische Gegenstände zu bergen, zog Kopp binnen einer Stunde rund vierzig eiserne Waffen aus dem schlammigen Boden, aus dem vereinzelt noch einige Holzstämme ragten. Diese Untiefe am nördlichen Uferrand des Sees war bei den Fischern bereits als „Tène“ bekannt.

Schwert und Lanzenspitzen vom Fundort La Tène in der Sammlung des Museums für Vor- und Frühgeschichte. © Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte / Ingrid Geske
Schwert und Lanzenspitzen vom Fundort La Tène in der Sammlung des Museums für Vor- und Frühgeschichte. © Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte / Ingrid Geske

Hype um prähistorische Fundstücke

Wenige Jahre zuvor wurde die Pfahlbausiedlung an den Ufern des Zürichsees entdeckt, als der Wasserspiegel auf einem Rekordtief stand. Vom Entdeckungsfieber dieser Zeit angesteckt, wollte der Neuenburger Oberst Friedrich Schwab ebenfalls Gegenstände aus längst vergangenen Zeiten in seinen Besitz bringen. Der damals einsetzende Nationalstolz der Schweizer Eidgenossen und die damit verbundene Suche nach der Vergangenheit war nicht nur en vogue, sondern auch äußerst lukrativ.

Über ganz Europa fegte eine Welle der Selbstfindung und des Verlangens nach Identität. Die Franzosen glorifizierten die Gallier, die Deutschen die Germanen und die Schweizer den keltischen Stamm der Helvetier. Das schlägt sich bis heute im internationalen Landeskennzeichen der Schweiz nieder: Confoederatio Helvetica, oder kurz „CH“.

Ein wahrer Hype um die prähistorischen Fundstücke setzte ein und europaweit kauften die großen Museen von privaten Sammlern und Ausgräbern die schönsten Stücke für ihre Sammlungen auf.
Oberst Schwab behielt jedoch die Fundstücke aus dem Ufer des Neuenburger Sees und baute sich damit im Laufe der Zeit seine eigene Sammlung auf. Es herrschte Goldgräberstimmung und die Fundstelle zog nun auch weitere Schatzsucher und Hobby-Archäologen an, die sich auf die Suche nach prähistorischen Gegenständen machten. Einer von ihnen war der Hobby-Archäologe Alexis Dardel-Thorens, dessen Sammlung nach seinem Tod unter anderem vom Schweizer Kunst- und Antiquitätenhändler Heinrich Messikommer an das Völkerkundemuseum Berlin verkauft wurde.

„La Tène“ erlangt weltweite Berühmtheit

Knapp zehn Jahre später wurde im Schweizer Mittelland die erste Juragewässerkorrektur durchgeführt. Mit dem Ausbau des Zihlkanals, der den Neuenburger See mit dem Bielersee verbindet, wurde der Wasserspiegel des Neuenburger Sees um zwei Meter gesenkt. Da die vorherige Fundstelle nun auf trockenem Grund lag, begannen 1868 die ersten Untersuchungen unter der Leitung von Emile Vouga, die allerdings vorrangig dem Einsammeln weiterer Fundgegenstände dienen sollten.

Die zuvor bereits bekannten Holzstämme, die bei Niedrigwasser aus dem See ragten, lagen nach der Wasserabsenkung ebenfalls frei und zeigten eine regelmäßige Anordnung auf. Der Verdacht, dass es sich bei dieser Stelle um eine angelegte Siedlung der Kelten handeln könnte, erhärtete sich und die ersten archäologischen Ausgrabungen wurden vorbereitet.

Die zahlreichen eisernen Fundstücke aus „La Tène“ – der Untiefe – erlangten mittlerweile weltweite Berühmtheit. Darunter waren etliche Schwerter, Schwertscheiden, Lanzenspitzen und sogar Schilde, deren hölzerne Bestandteile sich im Uferschlamm des Neuenburger Sees fast vollständig erhalten haben. Aber auch Haushaltsgegenstände, wie Sensen, Rasiermesser, Zangen, Fibeln und Gürtelhaken konnten in großer Zahl geborgen werden. Die Gestaltung und das Dekor der eisernen Gegenstände unterschieden sich deutlich von der Formsprache der bereits bekannten eisenzeitlichen Funde aus dem österreichischen Hallstatt. Während die Hallstätter Gegenstände mit geometrischen Mustern wie Kreise, Dreiecke, Rechtecke und Linien verziert waren, traten bei den Funden aus La Tène vermehrt figürliche Darstellungen und stilisierte Palmenmuster auf. Ein Hinweis auf das wachsende Netzwerk mit der mediterranen Welt?

Verkleidung einer Trinkschale aus Goldblech mit Reihen aus stilisierten Palmetten und Lotusblättern aus Schwarzenbach bei St. Wendel. Um 400 v. Chr. © Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung / Johannes Laurentius
Verkleidung einer Trinkschale aus Goldblech mit Reihen aus stilisierten Palmetten und Lotusblättern aus Schwarzenbach bei St. Wendel. Um 400 v. Chr. © Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung / Johannes Laurentius

Ein Name für die Epoche

Aus diesem Grund schlug 1879 der schwedische Archäologe Hans Hildebrand auf einem Kongress in Stockholm eine zweifache Teilung der Eisenzeit vor. Die frühe Eisenzeit sollte nach dem ergiebigen österreichischen Fundort den Namen der Hallstattzeit erhalten (ca. 800 bis 450 v. Chr.), die späte Eisenzeit den Namen Latènezeit (ca. 450 v. Chr. bis zum Jahr 0).
Zu dieser Zeit konnten über 2.000 Objekte aus La Tène in den Museen von Neuenburg, Biel, Zürich, Genf, Bern, Berlin und Paris gezählt werden. 1972 waren es bereits mehr als 3.000 Objekte, die sich mittlerweile sogar in den Museen von London, New York, Harvard und Princeton wiederfanden.

Im Jahr 2011 wurden über 4.500 Objekte aus La Tène in den Museen aller fünf Kontinente ermittelt. Hinzu kommt eine große Anzahl von Objekten, die im 19. Jahrhundert in den privaten Kunsthandel gelangten und seitdem der Forschung verwehrt blieben.

Keltische Maskenfibel aus Berlin-Niederschönhausen. 5. Jahrhundert v. Chr.. Die figürlichen Darstellungen auf den Trachtbestandteilen werden im Laufe der La Tènezeit immer plastischer. © Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte / Stefan Büchner
Keltische Maskenfibel aus Berlin-Niederschönhausen. 5. Jahrhundert v. Chr.. Die figürlichen Darstellungen auf den Trachtbestandteilen werden im Laufe der La Tènezeit immer plastischer. © Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte / Stefan Büchner

Die Bezeichnung „Latènezeit“ für die jüngere vorrömische Eisenzeit in Mitteleuropa hat sich etabliert und bis heute gehalten. Zu der berühmten Fundstelle am Neuenburger See gesellten sich zahlreiche weitere bedeutende Fundorte. Das Fürstengrab vom Glauberg, 30 Kilometer nordöstlich von Frankfurt / a. M., brachte eine überlebensgroße Statue eines Keltenfürsten aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. zutage. Das Oppidum von Manching, 7 km südöstlich von Ingolstadt, war wohl das bedeutendste Handels- und Wirtschaftszentrum der späten Latènezeit im 2. Jahrhundert v. Chr. nördlich der Alpen. Anhand der Häuserspuren konnte berechnet werden, dass in Manching zur Blütezeit ca. 10.000 Menschen innerhalb der Befestigung lebten. Selbst ein eigenes Münzsystem für den innerstädtischen Zahlverkehr wurde dort entwickelt.

Keltische Münzen und sogenannte „Regenbogenschüsselchen“ aus dem 1. Jh.v.Chr. Fundorte: Dünsberg bei Fellinghausen, Kr. Gießen; Oberstedten, Stadt Oberursel, Hochtaunuskreis; Goldgrube bei Oberursel, Hochtaunuskreis. © Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte / Klaus Göken
Keltische Münzen und sogenannte „Regenbogenschüsselchen“ aus dem 1. Jh.v.Chr. Fundorte: Dünsberg bei Fellinghausen, Kr. Gießen; Oberstedten, Stadt Oberursel, Hochtaunuskreis; Goldgrube bei Oberursel, Hochtaunuskreis. © Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte / Klaus Göken

Keltische Kultur auf dem Höchststand

Alles in allem befand sich die keltische Kultur zur Latènezeit auf ihrem Höchststand. Keltische Großgruppen begaben sich auf Wanderung quer durch Mittel- und Südosteuropa und stießen dabei sogar bis vor die Tore der kleinasiatischen Metropole Pergamon. Die Statue des sterbenden Galliers, die wahrscheinlich im Athena-Heiligtum von Pergamon aufgestellt war, zeugt vom Sieg der Pergamener gegen die keltischen Krieger. Allerdings ließen sich auch etliche Kelten in Kleinasien nieder da sie als Söldner von König Nikomedes I. von Bithynien angeworben wurden. Diese bezeichneten sich fortan als Galater.

Marmorbüste eines Galliers. © Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung / Ingrid Geske
Marmorbüste eines Galliers. © Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung / Ingrid Geske

Die Funde aus La Tène, die im 19. Jahrhundert in die vor- und frühgeschichtliche Sammlung des Berliner Völkerkundemuseums gelangten, wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erneut auseinandergerissen. Etliche Fundstücke gelten als kriegsbedingt verlagert: Sie wurden von der Sowjetarmee nach Moskau und St. Petersburg gebracht und gerieten in den dortigen Depots in Vergessenheit. Mit der gemeinsamen Ausstellung „Eisenzeit – Europa ohne Grenzen“ werden die Fundkomplexe aus dem Museum für Vor- und Frühgeschichte in Berlin und den russischen Museen nach 75 Jahren wieder erstmalig zusammengeführt und können ihre über zweitausendjährige Geschichte als Ensemble erzählen.

Die Ausstellung „Eisenzeit – Europa ohne Grenzen“ ist vom 11.11.2020 bis 28.2.2021 in der Eremitage in St. Petersburg zu sehen, vom 15.4. bis 15.7.2021 im Staatlichen Historischen Museum in Moskau. Als viertes Museum ist das Puschkin Museum beteiligt. Es handelt sich bereits um die dritte in einer Reihe von Ausstellungen, in der kriegsbedingt nach Russland verlagerte Objekte des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin wieder zu sehen sind.


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